Ist dem Unternehmer die sog. Ist-Versteuerung gestattet worden,
kann das Finanzamt die Gestattung nicht deshalb widerrufen, weil der
Unternehmer von seinen Vertragspartnern jahrelang kein Geld erhalten und
deshalb keine Umsatzsteuer abgeführt hat, seine Vertragspartner aber die in
Rechnung gestellten Umsatzsteuern als Vorsteuer geltend gemacht haben.
Hintergrund: Auf Antrag kann das
Finanzamt einem Unternehmer unter bestimmten Voraussetzungen gestatten, die
sog. Ist-Versteuerung anzuwenden, sodass die Umsatzsteuer erst dann vom
Unternehmer abzuführen ist, wenn er das Entgelt von seinem Kunden erhält. Bei
der Soll-Versteuerung muss er die Umsatzsteuer hingegen bereits dann abführen,
wenn er seine Leistung erbracht hat, ohne dass es auf die Bezahlung durch den
Kunden ankommt. Sachverhalt: Das Finanzamt hatte
dem Kläger im Jahr 1987 die sog. Ist-Versteuerung unter dem Vorbehalt des
Widerrufs gestattet, sodass er die Umsatzsteuer erst abführen musste, wenn
seine Rechnungen bezahlt werden. Der Kläger war als Geschäftsführer für mehrere
GmbH unternehmerisch tätig und stellte ihnen seine Geschäftsführerleistungen in
Rechnung und wies Umsatzsteuer gesondert aus. Die GmbH überwiesen die
Rechnungsbeträge jahrelang nicht, machten aber die Vorsteuer geltend. Das
Finanzamt stellte dies bei einer Außenprüfung im Jahr 2015 fest und widerrief
die Gestattung der Ist-Versteuerung ab 2016. Das Finanzamt begründete dies mit
einer missbräuchlichen Verwendung der Gestattung. Hiergegen klagte der Kläger.
Entscheidung: Der
Bundesfinanzhof (BFH) gab der Klage statt: Zwar stand die Gestattung der Ist-Versteuerung unter dem
Vorbehalt eines Widerrufs. Der Widerruf darf aber nicht aus sachwidrigen
Gründen erfolgen. Im Streitfall war die Begründung des Widerrufs sachwidrig.
Denn das Finanzamt ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die GmbH, für die der
Geschäftsführer unternehmerisch tätig war, die Vorsteuer aus den Rechnungen des
Klägers auch ohne Bezahlung der Rechnung geltend machen konnten.
Nach der neuen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH) erfolgen der Vorsteuerabzug und die Entstehung der Umsatzsteuer
zeitgleich. Die GmbH könnten nach dieser Rechtsprechung die Vorsteuer daher
erst dann abziehen, wenn sie die Rechnungen bezahlt haben und der Kläger dann
auch die Umsatzsteuer abführen muss. Zwar wird in Deutschland der Vorsteuerabzug nicht nur bei der
Soll-Versteuerung, sondern auch bei der Ist-Versteuerung zugelassen, wenn die
Leistung ausgeführt worden ist und eine ordnungsgemäße Rechnung vorliegt; auf
die Bezahlung der Rechnung kommt es also nicht an. Nach dem EuGH ist aber ein
zeitlicher Gleichklang zwischen Vorsteuerabzug und Entstehung der Umsatzsteuer
erforderlich. Der Umstand, dass die GmbH die Vorsteuer schon vor der Zahlung
geltend gemacht haben, beruht also nicht auf einem Missbrauch, sondern auf
einer unzutreffenden Umsetzung des europäischen Mehrwertsteuerrechts durch den
deutschen Staat. Hinweise: Bei den GmbHs, für die
der Kläger tätig gewesen ist, dürfte es sich um „nahestehende“
Gesellschaften gehandelt haben, da eine jahrelange Nichtzahlung von Rechnungen
unter fremden Dritten kaum akzeptiert werden dürfte und da die GmbH die
Rechnungsbeträge auf Verrechnungskonten gebucht haben. Der BFH hat eine abschließende Entscheidung über den Zeitpunkt des
Vorsteuerabzugs aus der Rechnung eines Ist-Versteuerers nicht getroffen,
sondern nur über die Rechtmäßigkeit des Widerrufs entschieden. Dennoch bleibt
abzuwarten, ob der deutsche Gesetzgeber tätig werden wird, um im Fall der
Ist-Versteuerung zu verhindern, dass die Vorsteuer deutlich früher geltend
gemacht wird, als die Umsatzsteuer an das Finanzamt abgeführt wird. Bei der sog. Soll-Versteuerung gibt es dieses Problem nicht, weil
bei ihr ein zeitlicher Gleichklang besteht. Denn die Umsatzsteuer entsteht mit
der Ausführung der Leistung, und der Leistungsempfänger kann mit der Ausführung
der Leistung auch die Vorsteuer geltend machen, sofern er über eine
ordnungsgemäße Rechnung verfügt. Quelle: BFH, Urteil vom 12.7.2023 – XI R 5/21;
NWB