Eine Videoverhandlung beim Finanzgericht (FG) verletzt das Recht
auf rechtliches Gehör, wenn sich der Videobildschirm, auf dem der Prozessgegner
zu sehen ist, im Rücken eines Prozessbeteiligten im Sitzungssaal befindet, so
dass sich der Prozessbeteiligte immer umdrehen muss, um den Prozessgegner zu
sehen.
Hintergrund: Eine mündliche
Verhandlung beim Finanzgericht kann in Gestalt einer Videokonferenz
durchgeführt werden. Der Kläger und sein Bevollmächtigter oder auch der
Beklagte (Finanzamt) sind dann im Sitzungssaal im Gericht nicht persönlich
anwesend, sondern nehmen per Videoübertragung an der Verhandlung teil.
Sachverhalt: Die Klägerin klagte
gegen das Finanzamt. Es kam zu einer Videoverhandlung im Finanzgericht, bei der
die Klägerin im Sitzungssaal saß, während das Finanzamt per Video zugeschaltet
war. Der Bildschirm, auf dem der Finanzamtsvertreter zu sehen war, befand sich
im Rücken der Klägerin, die Richterbank stand hingegen vor ihr. Die Klägerin
musste sich daher um 180 Grad wenden, um den Finanzamtsvertreter auf dem
Bildschirm zu sehen. Die Klägerin verlor ihre Klage und erhob gegen das Urteil
Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesfinanzhof (BFH).
Entscheidung: Der BFH gab der
Nichtzulassungsbeschwerde statt, hob das Urteil des FG auf und verwies die
Sache an das FG zur weiteren Entscheidung zurück:
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Die Videoverhandlung beim FG hat den Anspruch der Klägerin auf
das rechtliche Gehör verletzt. Zum rechtlichen Gehör bei einer Videoverhandlung
gehört es nämlich, dass der Prozessbeteiligte zeitgleich die Richterbank und
die anderen Prozessbeteiligten sehen und hören kann. -
Dieses Erfordernis ist nicht erfüllt, wenn die Klägerin den
zugeschalteten Finanzamtsvertreter nur dann sehen kann, wenn sie sich um 180
Grad dreht. Denn dann kann die Klägerin nicht zugleich die Richterbank sehen
und bekommt nicht mit, ob sich zwischen der Richterbank und dem
Finanzamtsvertreter eine nonverbale Kommunikation durch Mimik oder Gestik
entwickelt. -
Zwar muss die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
grundsätzlich gerügt werden, weil auf diesen Anspruch verzichtet werden kann;
ohne Rüge kommt es zu einem Rügeverlust, so dass eine Nichtzulassungsbeschwerde
nicht auf einen Verfahrensfehler gestützt werden kann. Das Rügeerfordernis gilt
aber nicht, wenn der Prozessbeteiligte – wie im Streitfall – nicht
durch einen Bevollmächtigten vertreten wird. Denn als Laie konnte sie das
Rügeerfordernis nicht erkennen.
Hinweise: Das FG muss nun neu
über die eigentliche Streitfrage, zu der sich der BFH nicht geäußert hat,
entscheiden.
Der BFH hat bereits vor kurzem entscheiden, dass der extern
zugeschaltete Prozessbeteiligte bei einer Videoverhandlung die gesamte
Richterbank während der überwiegenden Dauer der Verhandlung auf dem Bildschirm
sehen muss und nicht nur einen einzelnen Richter, etwa den Vorsitzenden.
Anderenfalls ist das Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt, weil der
Prozessbeteiligte nicht erkennen kann, ob die Richter pünktlich erscheinen oder
vorübergehend den Sitzungssaal verlassen oder auch einschlafen. Bei der
ordnungsgemäßen Besetzung handelt es sich um einen sog. absoluten
Revisionszulassungsgrund, so dass eine Rüge nicht erforderlich ist.
Quelle: BFH, Beschluss vom 18.8.2023 – IX B 104/22;
NWB